Im Winter 2014 durfte ich Ezra Fein besuchen. Wir hatten ihn in seinem Kibbuz En Harod auf einem Seminar besucht und ich fuhr etwas später nochmal hin, um ihm ausführlich zu zuhören.
Er gab mir einen Text seiner Schwester zur Veröffentlichung mit, der die Geschichte ihrer Familie zusammenfasst.
Ezra starb im Frühjahr 2015 und wurde auf dem Friedhof seines Kibbuz bestattet. Um so dankbarer bin ich, dass ich noch einen Teil seiner Geschichte hören durfte.
Ich habe den Text für den Blog etwas gekürzt und teils zusammengefasst.
Ein kurzer Bericht meines Besuchs bei ihm ist hier.
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FAMILIENGESCHICHTE FEIN-STEINSBERG |
Mein Vater, Erwin FEIN, wurde 1895 in Dorna Watra, einer Provinzstadt in der Bukowina, geboren. Er wuchs jedoch in Czernowitz auf, wo sein Vater Anwalt war. Er hatte eine etwas ältere Schwester Lilly.
Nach Erhalt der Matura fing er 1914 an zu studieren, wurde jedoch vom ersten Weltkrieg unterbrochen, in den er eingezogen wurde und bis 1919 drei Jahre lang in Kriegsgefangenschaft kam. Anschließend studierte er Jura in Wien und konnte es in kurzer Zeit absolvieren, was ihm als "Veteran" ermöglicht wurde.
1922 erhielt er den Doktortitel, besonders wichtig in Österreich. Doch ihn interessierte weniger die Rechtslehre, als Handelswissenschaften, Betriebswirtschaft und -Beratung, Betriebsorganisation und Buchhaltung.
Er arbeitete für zahlreiche Betriebe und besuchte diverse Kurse an Handelshochschulen und Fachschulen. Nebenbei entwickelte er ein Patent, einen farbigen Zelluloidreiter, der die damalige Buchhaltung übersichtlicher machte und sehr vereinfachte. Die Firma RUF, bei der er zeitweise angestellt war, hat das Patent vermarktet, und es hat beiden recht gut eingebracht.
1927 heiratete er Trude STEINSBERG.
Meine Mutter, Trude STEINSBERG, wurde 1905 in Franzensbad geboren, einem Kurort in Böhmen. Sie war außergewöhnlich intelligent und lernte spielend leicht. Ihr Gedächtnis war hervorragend, sie konnte ganze Bücher auswendig. Sie beherrschte 3 Fremdsprachen, sowie Latein und Griechisch. Mit 18 Jahren (1923) bestand sie die Staatsmatura, und wollte nun studieren. Ihr Vater war einverstanden, bestand aber auf einem Chemiestudium. Sie interessierte sich jedoch mehr für Literatur, Sprachen, Sprachwissenschaften und Philosophie und folgte eher solchen Vorlesungen. Sie wohnte in Wien bei einer befreundeten Arztfamilie. Ich glaube, sie hatte eine sehr lustige Zeit im Wien der 20er Jahre. Sie hat das Studium nicht beendet, hörte 1927 auf, als sie Erwin FEIN heiratete. Ihre Eltern waren nicht so begeistert, da es damals üblich war, dass die Töchter einen von den Eltern ausgesuchten Mann heirateten. Doch Trude ließ sich nicht von ihrer Wahl abbringen. Das Leben gab ihr recht, meine Eltern führten eine besonders gute Ehe. Ich habe sie nie streiten sehen, alles wurde friedlich ausdiskutiert. Sie waren liebevoll und haben durch alle schweren Zeiten zueinander gehalten.
1929 kam mein Bruder Ernst (jetzt Ezra) zur Welt und 1932 ich Edith (genannt Dita).
In diesem Jahr 1932 gründete mein Vater mit einem Partner eine eigene Firma als Betriebsberater- und Organisator und Buchsachverständiger (Revisor), und hatte viel zu tun. Wir hatten eine schöne Wohnung, ein Dienstmädchen (die gute Hella), Papa war Mitglied der Zunft seines Berufstandes, und betrieb weiter seinen Lieblingssport im Tennisclub. Die Mutter war nicht berufstätig und kümmerte sich viel um uns. In den Ferien fuhren wir ins Tirol, die Eltern waren begeisterte Bergwanderer, und auch zur Großmutter nach Franzensbad.
Klassenfoto von Ezra in Wien
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Im März 1938 fand der „Anschluss“ statt, und nun galten die deutschen Gesetze auch in Österreich, und es war nicht gut Jude zu sein. Unsere Familie war überhaupt nicht religiös, wir gingen nie in die Synagoge, hatten keinen Religionsunterricht. Wir lebten frei, beachteten nur die offiziellen staatlichen Feiertage, und begingen Ostern oder Weihnachten wie die Landsleute, mit Eiersuchen und Christbaum. Doch für die Obrigkeit galt nur der Ariernachweis, und den hatten wir natürlich nicht.
Nun durften wir auch kein Dienstmädchen mehr haben. Man hört von vielen Betroffenen, wie hässig und böse manche der Mädchen der jüdischen Familien sich verhalten haben. Doch nicht unsere Hella, sie weinte und heulte und wollte sogar Jüdin werden, um bei uns zu bleiben.
Viel schlimmer war, dass mein Vater kein eigenes Geschäft mehr führen durfte. Er musste es „arisieren“ (von einem Arier übernehmen lassen) oder auflösen. Papa entschied sich zum letzteren. So wurde seine Firma „zwangsliquidiert“ (noch so ein Ausdruck). Das geschah sehr zügig und auch gründlich: die Buchhaltung musste stimmen, keine Steuerschulden bestehen - alles mit amtlichen Briefen und Stempeln besiegelt.
Schon im September 1938 war alles erledigt und die Familie „durfte“ emigrieren. Zum Glück haben meine Eltern sich entschlossen diese „Erlaubnis“ wahrzunehmen. Viele gutgläubige jüdische Bürger konnten nicht glauben, dass man sie auschließen würde. Wer nicht rechtzeitig emigrierte oder auswandern konnte, erlitt ein böses Schicksal.
So packten wir unseren Hausstand in Kisten und Koffer und verfrachteten alles in Möbelwagen. Ich erinnere mich noch wie die Wagen vor dem Haus standen, und dann von Pferden zum Bahnhof geschleppt wurden. Beim Einpacken war ein Beamter anwesend, der aufpasste, dass keine Wertsachen das „Reich“ verließen. Aber mit etwas Trinkgeld war er nicht allzu aufmerksam. Und was ist schon wertvoll?
Ich war damals 6 Jahre alt und ging seit Ostern in die Schule, eine für Judenkinder natürlich, aber davon merkte ich nichts, ich wurde nie drangsaliert. Anders mein Bruder, der die Schule wechseln musste und auch verprügelt und verhöhnt wurde. Die Eltern hatten Glück und erlitten außer administratieven nie leibliche Erniedrigungen.
Also emigrierten wir im September 1938 nach Brüssel, Belgien. Dort wohnte seit 1931 Lilly, die Schwester meines Vaters, mit ihrem Mann Ralph Rauchwerger und zwei Töchtern.
Dort war zunächst alles wie vorher. Wir hatten eine schöne Wohnung, Papa eine gute Anstellung, wenn auch nicht selbständig, er war im Tennisclub und hatte viele Freunde und Bekannte, meist auch Emigranten. Wir gingen zur Schule und lernten schnell Französisch. Ernst tat sich mit dem Lernen etwas schwerer als ich.
Doch unser Glück dauerte nicht lange. Im Mai 1940 brach der Krieg aus und noch vor dem Einmarsch der Deutschen, wurde mein Vater sofort von der belgischen Polizei festgenommen, und nach Frankreich deportiert, und wir hörten 9 Monate lang nichts von ihm.
Zunächst begaben wir uns auf die Flucht (l'exode), wie viele Belgier damals. Mein Onkel organisierte das Geschehen. Die Flucht war sehr abenteuerlich, wir kamen per Taxi, Fuhrwerk und zu Fuß bis Armentières im Norden Frankreichs. Dort holten uns die gefürchteten Deutschen ein, ließen uns doch nach Brüssel zurückkehren. Da fanden wir alles ungestört vor und wohnten weiter in unserem Haus. Das Leben ging eigentlich normal weiter, es war kalt im Haus, einkaufen war mühsam, und Gas und Strom fielen geregelt aus. Wir hatten auch Schwierigkeiten mit den Behörden unter deutscher Besatzung, mit Aufenthaltspapieren oder Rationierungskarten.
Die Mutter wusste wohl nicht recht weiter. Sie nähte für Bekannte und Nachbarn, sie konnte immer gut Kleider abändern. Sie nähte sogar für Frauen von Besatzungsoffizieren (das sollte uns später zugute kommen). Mein Onkel hat uns auch geholfen. Er ist der späteren Verfolgung dadurch entgangen, dass er seinen Namen geändert hat und sich gegen Bezahlung adoptieren ließ.
Im Winter 1940/41 erhielten wir über Irrwege Nachricht von meinem Vater. Er war in Nizza, im damals noch unbesetzten Frankreich und bat uns verschlüsselt, ihm nachzukommen. Nun sah meine Mutter sich um, wie sie zu Reisepapieren käme. Wir hatten Glück: ein deutscher Offizier der Besatzung, für dessen Frau die Mutter nähte, verhalf ihr zu den notwendigen Genehmigungen. Nun konnten wir drei schon einmal bis Paris, in die besetzte Zone.
Dort sollten wir die Papiere für die Weiterreise nach Nizza beschaffen. In Paris wohnte schon seit langem ein Cousin meiner Mutter, Paul Kemp, der uns zwar nicht beherbergen konnte, wir hatten Unterkunft in einem Hotel garni, doch tagsüber waren wir meistens bei der Tante Elisabeth, die unglaublich streng war, und spielten mit ihren Kindern, die etwa gleich alt waren wie wir, und uns wie Untertanen behandelten. Unsere Mutter verbrachte die meiste Zeit auf Ämtern und erhielt schließlich das ersehnte "Laisser-Passer", Visum für das unbesetzte Vichy-Frankreich.
Endlich konnten wir weiterreisen. Die Fahrt war endlos, dauernd hielt der Zug für Kontrollen, und jedes Mal hatte man Angst. In Clermont-Ferrand, der Demarkationslinie zum unbesetzten Frankreich, war es besonders langwierig, wir Kinder mussten uns verstecken, es hieß die Deutschen holten manchmal Kinder aus dem Zug. Der Eisenbahnkontrolleur half uns und noch anderen Kindern (wieder Glück), und Mitreisende (wildfremde Frauen) halfen der Mutter ihr Gepäck zu verleugnen, wo man Kindersachen gefunden hätte. Endlich fuhr der Zug weiter, wir Kinder konnten wieder hervorkommen, alle atmeten auf.
Wir kamen in Nizza an, wo es hell und warm war, es war Februar oder März 1941. Überraschenderweise stand am Bahnhof unser Papa, furchtbar blass und abgemagert, in viel zu weiten Kleidern. Er war jeden Tag auf gut Glück zum Interzonenzug, gegangen und endlich waren wir da! Er war sehr krank gewesen, und entlassen worden, nachdem er in einigen berüchtigten Lagern interniert war: in Gurs, St.Cyprien und Les Mille. Er hatte viel mitgemacht, doch kaum jemals darüber gesprochen. Ein Transport muss besonders schlimm gewesen sein, denn mein Vater ging seitdem nirgendmehr hin ohne Trinkwasser bei sich zu haben.
Nun lebten wir in Nizza (Nice), wie damals viele Flüchtlinge und Emigranten.
Wir lebten wie viele unserer Schicksalsgenossen, die Eltern durften nicht arbeiten, hatten viel Scherereien mit den Ämtern: Aufenthaltsbewilligung, Rationierungskarten, Unterhaltsnachweis usw. Die Mutter nähte ein wenig, der Vater besuchte die Bibliothek und die Universität, ging zu Vorlesungen und hielt auch Vorträge. Die Eltern trafen Freunde und Bekannte, man half einander.
Wir hielten uns über Wasser (hatten keinerlei Einkommen) dank eines Dollarkontos in U.S.A., das der Großvater Steinsberg nach dem 1. Weltkrieg angelegt hatte, als in Europa die große Inflation herrschte. Über Schleichwege und Zwischenpersonen kam von Zeit zu Zeit ein erlösender Scheck bis zu uns. Die Mutter erzählte später gerührt, nie hätte jemand sie betrogen oder etwas unterschlagen.
Wir Kinder gingen zur Schule, ich in die öffentliche Primarschule de la République, lernte ohne Probleme, und schrieb unter anderem in schönster Schrift, Lobhuldigungen an unseren geliebten Maréchal Pétain.
Mein Bruder hatte es schwer in der Schule, passte sich schlecht an. Für ihn fanden die Eltern eine Privatschule mit Internat, das "Institut Bouttin", dessen Direktor Monsieur Bouttin war. Mein Bruder war externer Schüler.
Für mich ist die Zeit in Nizza eine schöne Erinnerung, wohl im Gegensatz zu meinen Eltern, die meist Sorgen und Angst hatten. Ich genoss die Zeit, lernte mit dem Papa schwimmen im Meer, wir wohnten am Strand. Ich zog mit dem Bruder herum, half beim Einkaufen, was sehr zeitraubend war. Man musste viel anstehen, oft weit gehen, wo es etwas Interessantes gab. Die Eltern hatten viele Freunde und Bekannte, und da man Zeit hatte, trafen sie sich oft. Es gab Konzerte oder Lesungen.
Doch dann, ab 1942 wurde es auch hier unruhig, man begann Juden zu verfolgen, es gab Verhaftungen.
Die Situation wurde so gefährlich, dass die Eltern ein Versteck finden mussten um unterzutauchen. Razzien waren an der Tagesordnung. Da, wieder Glück, half uns Monsieur Bouttin von der Schule meines Bruders. Es waren Sommerferien, das Internat beinahe leer, und wir zogen bei ihm ein. Bei etwaigen Kontrollen sollten die Eltern wie Hausgehilfen aussehen.
So begannen sie Fluchtpläne zu schmieden. Die Eltern gingen nicht mehr aus, viel zu gefährlich. Es gelang ihnen trotzdem, falsche Papiere zu beschaffen. In Notzeiten findet man Möglichkeiten. Freunde halfen uns und wir Kinder wurden auf Botengänge geschickt. Mir wurde eingeschärft, ich hieße FERIER und käme aus Lille. Das war weit weg und der Akzent meiner Eltern würde keinen Verdacht erregen.
So begannen sie Fluchtpläne zu schmieden. Die Eltern gingen nicht mehr aus, viel zu gefährlich. Es gelang ihnen trotzdem, falsche Papiere zu beschaffen. In Notzeiten findet man Möglichkeiten. Freunde halfen uns und wir Kinder wurden auf Botengänge geschickt. Mir wurde eingeschärft, ich hieße FERIER und käme aus Lille. Das war weit weg und der Akzent meiner Eltern würde keinen Verdacht erregen.
Mit diesen Papieren und möglichst wenig Gepäck sollten wir nach Annecy fahren. Dort würden wir einen "Passeur" finden, damals eine sehr verbreitete und einträgliche Beschäftigung (Notzeiten).
Alles ging planmäßig: wir reisten von Nizza nach Annecy, wir Kinder mit einem Hauslehrer von Bouttin, den die Eltern angestellt hatten, um nicht aufzufallen, in einem anderen Coupé. Ich fand das alles äußerst spannend, wie in den Abenteuergeschichten, die ich damals las. Etwas später fuhren wir wie geplant (der Hauslehrer war zurück nach Nizza gereist), von Annecy weg, in Absprache mit dem Passeur, stiegen an der vereinbarten Station aus, und standen auf dem Bahnsteig als einzige Reisenden, der Zug fuhr weiter, vom Passeur keine Spur.
Da standen wir nun, eine armselige Gruppe, was nun? Dem Passeur war es wahrscheinlich zu brenzlig geworden und das Geld hatte er ja im Voraus kassiert!
Wir waren zu fünft, denn mit uns reiste Hans Deutsch, ein guter Freund aus Nizza, den mein Vater aus den Lagern in Frankreich kannte. Es hieß damals, dass die Schweiz Familien mit Kindern nicht abweise. Dieser Freund hatte keine Kinder, seine Frau war nicht Jüdin, und unbehelligt in Nizza geblieben. Wir nannten ihn Onkel Hans und mochten ihn besonders gerne, er und "Tante Rolly" konnten wunderbar mit Kindern umgehen. Er spielte sehr schön Geige und hatte uns in Nizza mit seinem Quartett viele schöne Stunden bereitet. Er wurde auch tatsächlich nicht abgewiesen, und fand nach dem Krieg seine Frau wieder.
Aber nun standen wir fünf an dieser Haltestelle mit einem kleinen Bahnhäuschen, und wussten nicht weiter. Schon kam der Bahnwärter und begann zu fragen, was wir wohl suchten. Die Eltern erfanden eine Geschichte, die "petite" (ich natürlich), wäre krank geworden. Doch der Mann sah uns an und verstand sofort was los war. Er wollte uns ohne viel Worte helfen (wieder Glück). Er nahm uns ins Häuschen und erklärte uns die Lage. Die Grenze verlief ein paar hundert Meter weiter, doch Kontrollen wären häufig. Ich nehme an von den Franzosen im noch unbesetzten Frankreich.
Wir sollten warten bis die Patrouille sich entfernt hätte, die Frau des Wärters würde Schmiere stehen, und auf ihr Zeichen sollten wir schnell über einen Weg und ein Feld laufen, und dort war die Schweiz! Die Eltern wollten dem guten Mann noch das allerletzte Geld geben oder einen Wertgegenstand, doch das kränkte ihn, er tue nur seine Pflicht.
Also geschah es, und ganz schmerzlos waren wir in der Schweiz! Wir hatten viel Glück, hörten später von gefährlichen und abenteuerlichen Grenzübergängen, hoch in den Alpen, mit Unwettern, Schnee und Eis...
Wir fielen uns in die Arme und gingen ganz offen auf einer schmalen Straße weiter. Es dauerte nicht lange und zwei Schweizer Grenzsoldaten in grüner Uniform, Spezialhut mit Feder, Gewehr und einem großen Hund, nahmen uns fest. Sie brachten uns zu einer kleinen Grenzstation, wo noch einige Opfer saßen. Ich sehe noch meine Mutter vor mir, wie sie auf einer Bank in dem Warteraum saß, und unsere echten Papiere aus den Mantelsäumen holte, in die sie sie eingenäht hatte. Bald wurden wir von einem Beamten befragt. Ich durfte auch wieder FEIN heißen. Es wurde für jeden Flüchtling nach Bern telefoniert, was viel Zeit in Anspruch nahm. Es war September 1942.
Bei der gründlichen Befragung sollte man womöglich Referenzen in der Schweiz angeben können. Glücklicherweise kannte mein Vater Ninon HESSE, dritte und letzte Frau von Hermann Hesse. Sie stammte aus Czernowitz wie Papa, und war eine Schulfreundin seiner Schwester Lilly. Sie waren über all die Jahre in Kontakt geblieben, mit Neujahrsgrüßen oder Adressänderungen. Hesses lebten damals in Montagnola im Tessin. Ninon hat den Eltern anfänglich geholfen mit Paketen und etwas Geld.
Das Telefonat mit Bern verlief positiv und und wir wurden weitergeleitet: Zunächst nach Genf in ein Auffanglager in einem Fußballstadion, nach einigen Tagen in ein weiteres. Ich erinnere mich an eine große Menge Leute, viel Lärm und Bewegung. Doch war ich immer mit den Eltern und fühlte mich beschützt.
In den nächsten zwei Jahren jedoch trennte man uns alle von einander. Wir kamen erst in verschiedene Lager, wir Kinder kamen im Januar 1943 nach St.Gallen in Pflegefamilien. Da trennten sich auch unsere Wege, jeder war für sich allein. Mein Bruder kam zur Familie Sturzenegger, sehr fromme und strenge Wohltäter, die alle wissen ließen, dass sie ein Flüchtlingskind aufgenommen hatten.("Das isch de Ernscht, euses Flüchtlingchind").
Ich war anfangs bei einer streng katholischen Familie, wuchs mit ihren Traditionen auf, wurde aber nie religiös.
Schnell lernte ich Deutsch schreiben und lesen. Ich war eine gute Schülerin und hatte nie Schwierigkeiten, außer bei Handarbeit, auch Pflichtfach. Ich strickte nicht gut, zu fest und langsam, häkeln war auch nicht meine Stärke, und nähen schon gar nicht. Da hatte ich keine guten Noten. Im späteren Leben hat sich das geändert, ich war zeitweise strickwütig und habe meine Familie mit unzähligen Pullovern, Jacken, Mützen, Socken oder Schals eingedeckt. Als ich als erwachsene Frau drei Monate lang nach einer Operation im Spital platt liegen musste, strickte ich in dieser Lage fleißig, zum größten Staunen der Krankenschwestern.
Ich gewöhnte mich bald an mein neues Leben, ging gern in die Schule und lernte später bei einer anderen Familie auch schnell das Landleben kennen.
Meinen Bruder sah ich später als ich auf dem Land war nicht mehr oft, er war in Apenzell, und später in Luzern. Die Eltern besuchten wir alle drei Monate.
Im Jahre 1944 wurde mein Vater in ein Lager im Tessin versetzt, und meine Mutter versuchte näher zu ihm zu kommen. Es ergab sich, dass Frauen gewissermaßen "frei" sein konnten, weg aus dem Lager, wenn sie sich als Hausgehilfinnen verdingten. Trotz ihrer guten Erziehung und besonderen Intelligenz und Kultur, war meine Mutter sich seit dem Krieg für keine Arbeit zu gut.
Da wandten sich meine Eltern an Ninon Hesse, die sie schon bei der Ankunft in die Schweiz angesprochen hatten. Es traf sich gut, Ninon suchte dauernd Hauspersonal.
Hermann und Ninon Hesse wohnten in Montagnola bei Lugano, im Hause eines Gönners, das ihnen bis zum Lebensende zur Verfügung stand. Hesse war alt und krank, sehr mager, und musste eine besondere Diät folgen, die stundenlang vorbereitet wurde, und wovon er dann nur ein paar Bissen zu sich nahm. So wurde meine Mutter Köchin bei Hesses. Au ßer ihr war ein Dienstmädchen im Haus, das Vreni, die der Mutter sehr geholfen hat bei der Einarbeitung.
Das klingt alles viel schöner als es dann war. Ninon entpuppte sich nämlich als ausgemachtes Ekel und die Dienstboten gaben sich die Klinke in die Hand. So verließ auch das Vreni bald den Dienst und die Mutter war außer Köchin noch Mädchen für alles. Ihre Lage war dadurch erschwert, dass sie sozusagen eine Freundin von Ninon war. Sie duzten sich und die Mutter musste auch noch dankbar sein. Hesse wurde aus allem herausgehalten. Er werkelte im Garten, und meist hielt er sich in seinem Arbeitszimmer auf, und schrieb seine letzten Werke auf einer uralten Underwood Schreibmaschine.
Einmal durften mein Bruder und ich während der Ferien einige Tage in Montagnola bei Hesses verbringen. Wir mussten im Haus ganz still sein. Manchmal trafen wir Hesse im Garten. Er war sehr freundlich, ein großer, hagerer alter Herr, und unterhielt sich ein wenig mit uns. Er konnte auch sehr schön zeichnen und malen, und hat manche seiner Bücher selbst illustriert. Er sprach in ausgewählten Worten und wir waren unwillkürlich sehr eingeschüchtert. Einmal kamen Schaulustige zu ihm in den Garten und fragten nach dem Herrn Hesse, sie erkannten ihn nicht. Er schickte sie weg und sagte, der Hesse sei nicht da.
Nach einiger Zeit hielt es meine Mutter trotz allem nicht mehr aus. Die ewige Nörgelei und Kritik wurde auch ihr zuviel. Sie fand eine andere Anstellung, diesmal in Castagnola, das gegenüber lag, auf der anderen Seite über Lugano.
Es mag aus heutiger Sicht hart erscheinen, wie die Flüchtlinge von der Schweiz behandelt wurden: die Familien getrennt, die Eltern in Lagern (nicht zusammen), die Kinder in Pflegefamilien oder Heimen untergebracht. Ich habe damit kaum Probleme, fühlte mich meist gut behandelt und war nicht unglücklich, habe Erfahrungen gemacht und mich gut an die Schweiz angepasst. Mein Bruder ist viel nachtragender, fühlt sich seiner Kindheit und Jugend betrogen.
Es war Krieg, die Schweiz befand sich in einer ungemütlichen Lage zwischen den kriegführenden Ländern, und überfordert durch den Zustrom vieler Flüchtlinge, die Asyl suchten. Das Flüchtlingsproblem war dem Militärdepartement unterstellt und wurde militärisch behandelt: Männer hier, Frauen dort, und die Kinder extra untergebracht.
Zu keiner Zeit konnte man die Schweiz als sehr fremdliebend bezeichnen, höchstens für Fremde, die nur für kurze Zeit kamen und dafür noch Geld hinterließen, sprich Touristen. Nun waren auf einmal eine Menge Menschen da, wollten Versorgung und Schutz. Manche wirkten verdächtig, sicher waren Spione darunter, und besonders viele Juden, die den Nachbarländern und vielen Schweizern verhasst waren. Leider gab es zu viele Fälle von Ausweisungen, doch ich kann nur für mich sprechen, und bleibe der Schweiz ewig dankbar.
So durften wir auch nach dem Krieg in der Schweiz wohnen bleiben.
Mein Bruder Ernst war inzwischen viel herumgekommen, hatte in Luzern die Hotelschule besucht und immer fleißig gearbeitet, in Hotels oder Restaurants. In Genf kam er in ein Jugendheim und sollte noch zur Schule gehen. In diesem Heim kam er mit einer Gruppe Jugendlicher zusammen, meist Waisen und Versprengte aus ganz Europa. Diese jungen Leute wurden vorbereitet um ins damalige Palästina auszuwandern. Da fand er seinen Weg und wollte sich unbedingt dieser Gruppe anschließen.
Ezra baute Straßen in ganz Israel, fuhr unzählige Traktorladungen und baute das
Land mit auf.
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Unsere Eltern waren anfangs überhaupt nicht begeistert von diesem Plan. Die Kameraden die mein Bruder ihnen vorstellte, waren so gar nicht ihr Stil. Doch dann brachte er einen Freund mit, Bruno Levin, Zürcher Jude, Dipl. Ing. ETH, der die Gruppe mitleiten sollte. Das beruhigte die Eltern und sie ließen ihren Sohn erleichtert gehen. Die Gruppe erreichte das eben gegründete Israel nach vielen Irrwegen im Jahre 1948.
Dort gründeten sie den Kibbutz Lehavoth Habaschan in Galiläa. Mein Bruder fand da seine Heimat. Er hat das Land mit aufgebaut, hat als Traktorist gearbeitet, Straßen gebaut, und das Sumpfland um seinen Kibbutz urbar gemacht, anfangs unter Beschuss der Syrer, die über dem Tal Stellungen hielten. Er war an den Kriegen beteiligt, hat Truppen und Geräte transportiert.
Die Eltern haben ihn oft besucht, reisten erst mit dem Schiff von Genua aus, später per Flugzeug. Sie sahen das Land aufblühen. Ich bin mit meiner Familie ab 1975 oft zum Bruder gefahren. Er wohnte jedoch nach seiner Heirat im Kibbutz seiner Frau, in En-Harod.
Meine Eltern arbeiteten nach dem Krieg sehr erfolgreich als Ingenieur bzw. Übersetzerin.
Ich fand nach der Schule Arbeit als Arztgehilfin bei einem Ärzteehepaar und wohnte weiter bei meinen Eltern. Meine Arbeit war sehr abwechslungsreich und interessant, ich lernete viele Menschen kennen und hatte ein gutes Verhältnis zu meinen Arbeitgebern.
Meine Mutter war eine außergewöhnliche Frau und hatte viele gute Eigenschaften. Doch war es nicht immer einfach mit ihr zu leben. Sie wusste und konnte alles besser und zeigte es auch. Ich wollte jedoch selbständig sein. Im Jahre 1954 heiratete ich, wohnte erst in Vevey und seit 1956 in Belgien. Doch das ist eine andere Geschichte.
Meine Eltern führten ein ruhiges Leben, sie arbeiteten viel, gingen oft ins Theater, zu Konzerten, hatten Freunde. Im Sommer machten sie Wanderungen im Engadin und im Winter reisten sie nach Israel zu ihrem Sohn.
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Mein Vater starb 1965 an einem Herzinfarkt. Trotz einiger Gesundheitsprobleme hat er nie schwer gelitten und der Infarkt traf ihn auf dem Weg zu einem Kunden.
Meine Mutter widmete sich nun vollständig ihrer Tätigkeit als Übersetzerin.
Sie starb 1982 kurz nach Ostern in Israel. Seit einigen Jahren verbrachte sie die Winter dort, vertrug das Zürcher Klima dieser Jahreszeit nicht mehr. Ihre Gesundheit ließ nach und sie hatte beschlossen, ganz zu übersiedeln, um die Strapazen des hin und her zu beenden.
Wir hatten mit zwei unserer Söhne die Osterferien 1982 im Kibbutz En-Harod verbracht und es war ein wunderbarer Aufenthalt. Die Mutter hat mir erklärt wie ich ihre Zürcher Wohnung auflösen sollte, weil sie nicht mehr dahin kommen würde. Am Tag nach unserer Heimkehr rief mein Bruder an, er habe unsere Mutter morgens tot in ihrer Wohnung gefunden. Ich flog nach Zürich um alles zu erledigen und fand ihre Sachen in bester Ordnung.
Unser letztes Zusammensein war so harmonisch und positiv verlaufen, dass ich eigentlich nicht traurig war, eher betroffen. Was jetzt fehlt, ist die vorige Generation, man bekommt keine Antwort mehr zu Fragen von früher.
Unsere Mutter hat ihr Grab im Friedhof vom Kibbutz im dortigen Stil: ein Riesenstein mit einer Inschrift. Man legt kleine Steinchen und auch Blumen darauf. Der Friedhof ist sehr gepflegt, bepflanzt und bewässert, von hohen Bäumen umgeben. Für unseren Vater, der in Kilchberg liegt, ist eine kleine Platte auf Mutters Grabstein, mit einer deutschen Inschrift.
Geschrieben in Mol, 23. Oktober 2005 Revision 2007
Dita Rottenberg-Fein.
Bilder aus Ezras Kibbuz, En Harod:
Ein sehr berührende Geschichte, Respekt dafür, dass trotz der erlebten Bösartigkeit der Verfolgung so wenig Bitterkeit durchklingt. Als Wiener bedauere ich es, Sie als Mitbürger verloren zu haben. Auch in Gedenken an meine im Ghetto Lodsch verstorbene Tante Martha Fein-Spraider, konvertierte Jüdin, die die Schoah leider nicht überlebte. Würde mich freuen von anderen Familienmitgliedern Fein hören zu dürfen, da ich Verwandte suche.
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